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Der Aphorismus in Europa



Friedemann Spicker
Jürgen Wilbert
ISBN: 978-3-948229-16-0
Seiten: 312
Preis: 19,90 €
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Friedemann Spicker/Jürgen Wilbert: Der Aphorismus in Europa.

Entwicklungen – Zusammenhänge – Themen,

Edition Virgines Düsseldorf 2021

 

Im Mai 1925 gab der internationale PEN-Club in Paris ein Bankett, auf welchem Paul Valéry eine kurze Ansprache hielt. In ihr äußerte er seine Verwunderung darüber, daß sich Schriftsteller aller Herren Länder im Sinne und zum Zwecke der Völkerverständigung versammeln, ist es doch die Absicht eines Autors oder jedenfalls seine unwillkürliche Wirkung, „offensichtliche Hindernisse, … die ein Volk von allen anderen trennen, aufzugreifen, zu verstärken und auszubilden“. (S. 41) Valéry vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, ein Ausländer könne nie so tief in Sprache und literarische Werke eines Volkes eindringen wie ein Angehöriger desselben. Dieser Skepsis stellt er aber die Liebe der europäischen Literaturen zueinander gegenüber und wagt sogar die Hoffnung, Frankreich, das bei aller Unterschiedlichkeit als Nation zu einer Einheit gefunden habe, könne „eine Art von vorweggenommener Gestalt eines künftigen vereinigten Europa sein“. (S. 43) Frankreich ist zwar in den knapp hundert Jahren nach Valérys Ansprache nicht zum Beispiel der vorweggenommenen Einheit Europas geworden, und die EU hat sich nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs nicht zu einem Zentralstaat entwickelt, sondern zu etwas Ähnlichem wie einem Staatenbund, aber Valérys Hoffnung lebt fort. Sie trägt auch das von Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert komponierte Buch „Der Aphorismus in Europa“.

 

Während ein kleines Virus die Welt in Atemnot stürzt und die europäischen Nationen auf Eigeninteressen zurückwirft und Reisefreiheit hinter dem Gesundheitsschutz zurücktreten muß, besinnt sich die Kultur nicht nur auf ihre Eignung, digitalisiert und visualisiert zu werden und als Datenbündel in die Häuser und Arbeitsstätten zu gelangen, sondern auch auf eine ihrer wesentlichen Funktionen: den Trost. (Ohne auf ihre angestammte Aufgabe, die Kritik, zu vergessen, deren Tröstlichkeit leicht verkannt wird.) Sogar in analoger Form bäumt sie sich auf gegen den Corona-Sog und erscheint altväterhaft als – Buch. Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert ist gelungen, all jenen, die sich für die unbescheiden kleine Gattung des Aphorismus interessieren, mit ihrem einzigartigen Überblick „Der Aphorismus in Europa. Entwicklungen - Zusammenhänge - Themen“ eine Anthologie in die begeisterte Hand zu legen, deren Vielfalt die Eintönigkeit der kontaktbeschränkten Häuslichkeit aushaltbar macht. Und dies für viele Tage, denn unterbrechungsloses Herunterlesen von Aphorismen war der Gattung noch nie angemessen.

 

Dennoch fördert die Anthologie das Verweilen, ohne welche die ihr abzugewinnenden Erkenntnisse verspielt werden könnten. Verweilen und Erkennen wird ihr durch die klare Gliederung der Funde und Befunde leicht gemacht: Einem Vorwort, das die Entstehung des Buches erläutert und seinen Zusammenhang mit einem Festivalprojekt des Netzwerks „Literaturland Westfalen“ hervorhebt, folgen ein umfangreicher „Historischer Teil“ und ein ähnlich umfassender „Thematischer“. Eine erstmalige und einmalige „Chronik des europäischen Aphorismus“ ordnet für die Gattungsgeschichte bedeutsame Titel von 1576 bis 2019 und bestätigt ihre Relevanz für die Moderne. Den Schlussstein zu diesem Gebäude bildet eine Bibliographie, sie ermöglicht es, ihm die gebührende wissenschaftliche Reverenz zu erweisen.

 

Dass sie verdient ist, bezeugen die Hauptteile auf jeder Seite. Der historische führt durch die Jahrhunderte und ordnet die Autoren ihren Nationalliteraturen zu, von denen in den ersten vier Jahrhunderten sechs vertreten sind, im 19. steigt die Zahl auf sieben, während das 20. eine Zweiteilung erfährt und dem Leser insgesamt 12 Länder begegnen. Die Gegenwart fügt vier Namen kleinerer Länder hinzu und spiegelt die europäische Entwicklung zur Vielfalt. Verbleibt der Überblick in herkömmlichen Einteilungsgrenzen, gelingt den Herausgebern in der Auswahl der die Länder vertretenden und mit jeweils fünf Aphorismen vertretenen Autoren eine überzeugende Porträtgalerie, deren Abschreiten jedem Liebhaber der Gattung Erkenntnislichter aufsetzt und ihn europäischen Geist atmen läßt. Ihm ist es zu verdanken, daß der Gründer der Paneuropa-Union Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi mit einem ‚Bildnis‘ vertreten ist. (Vgl. S. 86 und 89) Der thematische Teil setzt die aphoristischen Splitter zu Mosaiken zusammen, die, wenn es dazu allegorische Figuren gäbe, u.a. Politik, Gesellschaft, Recht, Religion, Kunst und Natur darstellen würden. (Bei den zu Deutschland gesammelten Sentenzen (S.148/149) kommt die gern ausgesparte Bemerkung Lichtenbergs in den Sinn: „Der Charakter der Deutschen in 2 Worten: patriam fugimus. Virgilius.“  (E 354))

 

Der historische wie der thematische Teil bestätigen eindrucksvoll die in der Einleitung formulierte Einsicht, daß die seit der Renaissance in Europa entwickelte Gattung des Aphorismus „genuin europäisch“ ist und insofern bei aller Verwurzelung in den Landessprachen übernationale Züge trägt. Die klassische Beobachtung dazu stammt von Elias Canetti und wird doppelt zitiert: „Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie alle einander gut gekannt hätten.“ (S.139 und 145) Sie wissen, daß ein guter Gedanke damit leben kann, kein Aphorismus zu werden, ein Aphorismus aber nicht darauf verzichten kann, einen guten Gedanken zu beinhalten. Die Ähnlichkeit im Denken und Formulieren ließe sich nicht zuletzt dadurch erklären, daß die Aufklärung als für die Identität Europas konstitutiv angesehen werden kann. (Vgl. S.39) Wenn man dem europäischen Gespräch lauscht, welches die Herausgeber Spicker und Wilbert mit großen Gespür für die Qualitäten der Gattung und ihrer Autoren inszeniert haben, hört man eher selten einem optimistischen Glauben an den Menschen zu oder einer Fortschrittsgläubigkeit, was die Erziehung des Menschengeschlechts angeht. Viele Stimmen schlagen dunklere Töne an und pflegen die „gattungseigene(n) Skepsis“ (S. 151). Ihr gehört auch der Schlussaphorismus von Valéry zu „Wir sind eine Spezies, die zum Angriff auf die Natur angetreten ist.“  (S. 278) Da ist es nützlich zurückzublättern, sich auf die Vielfalt der Gattung zu besinnen, welche den Raum der Gegensätze ausschreitet, und sich von Nicolas Sébastien Roche-Chamfort belehren zu lassen: „Das Denken bietet Trost und Heilung für alles. Hat es einem wehgetan, so verlange man von ihm das geeignete Gegenmittel, und man bekommt es.“ (S.36) Die von George Steiner zum Buchtitel erhobene Erfahrung, Denken mache traurig, (vgl. dazu Joubert S. 247) wird durch aphoristischen Witz und Humor relativiert. Vielfalt erzeugt Relativität, und Relativität Vielfalt. Dennoch gelingt es Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert, das aphoristische Denken in Europa in erstaunlicher Einheitlichkeit zu dokumentieren und den Glauben an menschliche Weisheit und Klugheit und daran, daß ihnen die Kürze der Gattung guttut, zu festigen. Gut tut die Gattung durch ihre inspirierende Kraft auch, wie in vielen Publikationen bestätigt, der bildenden Kunst. Diesmal hat sie Andreas Noßmann zu faszinierenden Porträtzeichnungen berühmter Aphoristiker angestiftet.

 

Dr. Michael Rumpf,

Germanist, Philosoph und Schriftsteller, vorzugsweise Aphoristiker und Essayist.

Herausgeber der Literaturzeitschrift ZENON.

 

 

Auszug
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Entwicklungen • Zusammenhänge • Themen

Mit zahlreichen Porträt-Zeichnungen von Andreas Noßmann  

Titelbild von Zygmunt Januszewski 

Mit Unterstützung durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW und des Netzwerkes „Literaturland Westfalen“.