Literatur
„Beklemmende Begebenheiten aus dem Leben der Romanfigur in der Zeit der Naziherrschaft und 70 Jahre später.“
(Lingener Tagespost, 7.3.16)
„Elisabeth Tondera ist es mit diesem Roman gelungen, jeden Leser mitzunehmen.“
(Eva Maria Riedel, Lingener Tagespost, 28.11.15)
„In Elisabeth Tonderas Erstlingswerk “Das Zeitenkarussell” erschienen 2015 im Verlag Virgines (Lingen) geht es um sechs Tage, die das Leben verändern. Die Autorin erzählt die Zeit vom 25.Mai 2009 bis zum 31.Mai 2009 aus dem Leben der Marta Buhlau. Den Anfang bildet der Geburtstag der Protagonistin: sie wird achtzig und erinnert sich an einen anderen Geburtstag, den 25.Mai 1936 und an das Kind, das sie war. Der sich nun entwickelnde Erinnerungsprozess wird der Motor der Geschichten, die Tondera in einem ebenso einfachen wie raffinierten Verfahren parallel erzählt: die Tage aus Jahr 2009 werden mit denselben Tagen des Jahrs 1936 verflochten.
Verflochten werden damit auch zwei Lebenslandschaften: Norddeutschland (Niedersachsen/Westfalen?), das Land, in das die Familie am Ende des Krieges geflohen ist und das Ermland, aus dem Marta stammt, ein Gebiet im früheren Ostpreußen, das heute nach fast vollkommenem Bevölkerungsaustausch zu Polen gehört.
„Die Zeit ist abgelaufen, die Zeit ist abgelaufen, die Zeit... In Martas Kopf hat sich der Satz festgesetzt wie eine Litanei. Die Zeit, sie dreht sich im Kreis, die Uhr zeigt heute an, was auch gestern gewesen ist und was morgen sein wird, immer und immer weiter in gleichmäßigem Rhythmus“ (S. 33). Leitmotivisch wird das Nachdenken über die Zeit im Text von Anfang an aufgebaut: Sie beginnt mit der inneren Stimme der Protagonistin, die sich über ihr Leben befragt. Doch die das Ganze ordnende Erzählstimme bringt diese Gedanken mit einem grundsätzlichen Reflexionsprozess darüber zusammen, wie die kleine Geschichte eines einzelnen Menschen in die große Geschichte eingebettet ist, von ihr mitgerissen wird, sich an ihr reibt oder auch an ihr zerbricht. Tondera befindet sich mit diesem Thema in ausgezeichneter literarischer Gesellschaft (man denke nur an die Marschallin und ihre berühmten Gedanken zur Zeit aus Hofmannsthals Libretto zu Richard Strauss’ Oper „Der Rosenkavalier“).
Viele Fragen von damals sind für Marta Buhlau offen geblieben. Sie entzünden sich vor allem an zwei Figuren: an ihrer zehn Jahre älteren Schwester Greta und deren unmöglicher Liebe und an der geheimnisvollen Herta, einer Kräuterfrau, deren Geist sie verfolgt und immer wieder an ein Geheimnis erinnert, das auf die kleine Marta traumatisch gewirkt hat und das die große Marta endlich verstehen muss.Warum hat sich die geliebte Greta damals auf einmal so verändert, ist distanziert und fremd geworden? Was hat Marta damit zu tun und warum fand man plötzlich eine Leiche im Wasser?
Den LeserInnen helfen in diesem veritablen „Zeitenkarussell“ die Überschriften der einzelnen Kapitel (die historischen Daten), um sich zu orientieren, ohne bei den Zeitsprüngen den Überblick zu verlieren.
Die Erinnerungen und Gedanken werden durch Gegenstände oder auf den ersten Blick unbedeutend erscheindende Alltagsereignisse angestoßen (Proust docet) und erhalten durch die historische Verknüpfung eine Tiefendimension, die weit über das persönliche Schicksal hinausgeht. Da ist zum Beispiel das Karussell, ein Spielzeug, das sich die kleine Marta erst sehnlich gewünscht hat, ihr Geburtstagsgenschenk, das bald zerbricht – so wie die Welt um sie herum. Aber da sind auch alte Zeitungblätter, Fotos, da ist die Delfter Porzellanuhr und vor allem Gretas Brosche.
„Erinnerungen sind launisch. Manche sind immer da, lassen sich jederzeit abrufen wie ein Film, auf dessen Bilder man beim Abspulen vertrauen kann, weil sie stets in der gewohnten Reihenfolge ablaufen und die Szenen immer gleich bleiben. Andere Erinnerungen kommen und gehen, und jedes Mal, wenn sie wieder auftauchen, sind sie verwandelt. Und dann gibt es noch solche, die über Jahrzehnte im verborgenen Winkel des Gehirns ruhen, einem Todesschlaf ähnlich. Nichts bereitet einen darauf vor, dass sie urplötzlich ausbrechen, eine Flut von Bildern antreiben [...] Eine Stimme, eine Melodie, ein Duft kann sie aus der Tiefe hervorholen oder das Brot, das Marta schneidet“ (S. 194/5).
Der gut gewählte Titel „Zeitenkarussell“ verweist aber auch auf den zunehmend schneller und unkontrollierter werdenden Erinnerungsprozess „vorwärts und rückwärts durch die Zeit“ (S. 147), bei dem die so lebenskluge und gewitzte Marta das Gleichgewicht und die Ordnung in ihrem Alltag verliert. An so viele Menschen erinnert sich die Protagonistin, die plötzlich für sie sogar im Raum stehen, da bleibt es nicht aus, dass in der Erzählung einige nur kurz auftauchen, bisweilen etwas schattenhaft wirken. An einigen Stellen hätte es noch Erzählpotential gegeben, denn die Neugier wird immer geweckt.
Auch sprachlich hat dieser Text einiges zu bieten: er erweckt eine Sprache, die man heute kaum mehr hören wird, den ostpreußischen Dialekt, den Marta weiterhin spricht, in ihren Selbstgesprächen und den Unterhaltungen mit der jüngeren Schwester Hilde (die Autorin hat gut daran getan, ein kleines Glossar am Ende des Buchs anzufügen, denn wenige werden heute noch ‚Klunkermus’ kennen). Die Worte von damals enthalten eine konkrete, sinnliche Dimension, die nichts Aufgesetztes hat, sondern mit dazu beiträgt, Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Dieser spannend konzipierte und mitreißend erzählte Roman ist thematisch vielschichtig; er ist vor allem aber auch eine erschütternde Frauengeschichte des 20. Jahrhunderts und lässt die zu Wort kommen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben – Geschichten, die zeigen wie Frauen Krisen bewältigen mussten, von denen viele unausgesprochen geblieben sind.“
(Prof. Dr. Eva-Maria Thüne)
Inhaltsverzeichnis/Vorwort:
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Der Titel „Das Zeitenkarussell" weist unmittelbar den Weg zum Verständnis von Aufbau und Struktur des Romans. Er spielt in zwei Zeitebenen, jeweils von Montag bis Sonntag in der Woche vor Pfingsten im Jahr 1936, zur Zeit der Nazi-Herrschaft, und im Jahr 2009, also 73 Jahre später. Die Protagonistin Marta, geboren 1926 auf einem Bauernhof im Ermland im ehemaligen Ostpreußen, lebt seit ihrer Flucht im Jahr 1945 in der Bundesrepublik. Im Jahr 2009, in der Woche nach ihrem 83. Geburtstag, steigt die Erinnerung an die parallel verlaufene Woche nach ihrem 10. Geburtstag im Jahr 1936 in ihr auf und belastet sie zusehends. Auf die glückliche Zeit der Kindheit fiel ein dunkler Schatten, ein düsteres Familiengeheimnis. Sie bekam damals mit und war verstört darüber, dass ihre ältere Schwester Greta sich plötzlich, unerwartet und auf unerklärliche Weise veränderte, aller Frohsinn von ihr wich und sie geradezu verstummte – und das blieb so bis in die Gegenwart. Es musste etwas Schreckliches passiert sein, das ihre Eltern nicht preisgaben. Sie bekam damals lediglich am Rande mit, dass die so benannte Kräuterfrau Herta daran beteiligt war, aber dass Greta einen jüdischen Freund namens Klaus hatte, war ihr nie bewusst.
Sie kommt dem Geheimnis im Jahr 2009 endlich auf die Spur, in ihrer Wahrnehmung vermischen sich in zunehmender Weise die parallelen Wochentage aus beiden Zeitebenen, Gegenwart und Vergangenheit drehen sich im Kopf wie ein Karussell, sie erinnert sich an ihr Spielzeugkarussell und das Kinderkarussell auf dem dörflichen Pfingstfest, ein Zeitstrudel erfasst sie und zieht sie in die Tiefe.