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Literatur

Marie Luise Syring

„ich bleibe hier“

Erscheinungstermin: 05.05.2014

Wolfgang Kliege
ISBN: 978-3-944011-22-6
Seiten: 428
Abbildungen: ca. 100 Farbabbildungen
Nachwort: Marie Luise Syring
Preis: 25,00 €
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Nachwort zu der Frage, was denn ein Diskussionsgedicht sei
Sind es nun eine oder zwei Stimmen, die da sprechen? Oder handelt es sich nicht eher um einen inneren Monolog, eine Mischung aus Reportage, Erlebtem und Fiktivem, einen ge - setzlosen Ideenstrom, der keiner Logik folgt, eine Anein an - der kettung von Legende und Tagesaktualitat, um spielerisch umeinander gewundene Gedankengange, im Tagtraum ver - fangen, voller Lucken und Sprunge, Verknupfungen und Unterbrechungen?
Dieses Buch von Wolfgang Kliege ist sowohl sprachlich als auch formal ein Experiment. Der Autor ist Bildhauer, und wie ein Bildhauer gestaltet er sein Objekt. Er setzt es aus Teilstucken zusammen, formt und verformt es, hat 13 Texte geschrieben, die durch Fotografien voneinander getrennt und auch begleitet werden. Die Texte bestehen aus unentwegten, nicht enden wollenden Diskussionen zwischen einem Mann und einer Frau, die immer andere Namen tragen, wie Bertolt und Helene oder Atlas und Ariadne. Der Autor nutzt den fingierten Dialog, um die Ernsthaftigkeit seiner meist kriti - schen Anmerkungen durch grimmige Ironie oder hausliches Geplankel aufzulockern. Die Bildfolgen dazwischen dienen als Kommentar mit Eigenleben oder als Unterstreichungen oder auch als eingeflochtene Hinweise, die punktuell die Dialoge illustrieren. Der Ursprung dieser literarischen Form bestand aus Gesprachsfetzen, die Kliege zufallig mit angehort hat, als er 2010 auf einem Schiff zu dem von ihm initiierten Festival für Kunst und Literatur auf der aolischen Insel Salina fuhr (1). In Ermangelung von Stift und Papier notierte er die Gesprache sogleich als SMS in sein Handy.

Zwei Personen diskutieren hier, aber wahrscheinlicher ist es, dass der Autor ein Selbstgesprach zu zweit fuhrt. Vehe ment wie ein Sturm durchfahrt er die politische Landschaft, von Kindesmissbrauch durch katholische Priester, von Rassis mus und von der Schandung der Natur und Umwelt ist die Rede, von der Todesstrafe in den USA und von den Stra tegien der Macht. Gelegentlich streut er hinterlistig Anek doten mit bosem Ausgang ein. Und Marx und Sloterdijk tauchen als Kohlenpott-Philosophen auf. Oder Bierzelt-Gaudi und Kunst-Events werden miteinander verglichen. Dazwischen wiederum optimistische Ausblicke auf die Liebe, die Kunst, den arabischen Fruhling. Mal ergreift Kliege als Aufklarer und Anklager das Wort, ein anderes Mal wird er zum Er zahler: von der Legende der Heiligen Drei Konige etwa, oder von Hephaistos und Helios und von der Liebe zur Kunst.
Es sind schweifende Gedanken, die von einem Thema zum anderen gleiten, von der Tagespolitik bestimmt oder von den Aktualitaten mitgeschwemmt. Allein im ersten Heft fuhrt das Gesprach, nur scheinbar unstrukturiert, von der Jagd zum Judentum, von Berlusconi zum Atomstrom und zu Tschernobyl, teils mit Nachdruck vorgetragen, manchmal beilaufig; manchmal ruft Kliege aber auch die beruhmten Sturme des letzten Jahrzehnts, Kyrill und Xynthia, zu Hilfe, um hindurchzufegen durch die Vorurteile der Menschen, die Stumpfheit, die Leichtglaubigkeit. Oft macht er sich lustig, dann wieder gibt er seiner Emporung oder seiner Freude Ausdruck. So wechseln die Geschichten vom Bosen und von Krankheiten mit solchen von der Bewunderung der Natur. Irakkrieg und olverseuchte Meere kommen vor, Moscheen und Minarette, die Religion, die Wissenschaft, die Literatur, die Mondphasen und der Stadtebau.

Wie man in scheinbar lakonischen Diskussionen so ganz nebenher unvermutet die Zeitgeschichte aufscheinen lassen kann, das hat Bertolt Brecht in seinem Buch der Flücht lings - gespräche aufgezeigt. Und eben dort meinte er von einigen Dichtern lobend hervorheben zu konnen: „Es hat auch solche gegeben, die dem Publikum ihre Meinung gesagt haben"(2). Die Diskussionsgedichte von Wolfgang Kliege stellen fur mich solch eine mutige Form des Einspruchs gegen das Diktat der Zeitlaufte und der Medien dar: hier geausert durch den betont subjektiven Blick, oder besser das Ohr, eines prazise beobachtenden und lauschenden Kunstlers, bisweilen in zugespitzten Thesen formuliert, mit Phantasie und Humor vorgetragen.

(1) Italienisch-deutsches Festival fur Kunst und Literatur, Rinella, Salina, 2010
(2) 1961 aus dem Nachlass von Bertolt Brecht, bei Suhrkamp erschienen, S. 39